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Bausteine einer alternativen Psychotherapie geschichtsschreibung Bausteine einer alternativen Psychotherapiegeschichtsschreibung: Suggestionstherapie, rationale Wachpsychotherapie, Psychokatharsis Christina Schröder Zusammenfassung: Die in der Literatur zur Geschichte der Psychotherapie unter dem Einfluß der Psychoanalyse dominierende präsentistische Darstellung bedarf insbesondere für die Entstehungszeit der Psychoanalyse einer Korrek- tur. Die hypnotische Suggestion, die rationale Wachpsychotherapie und die Psychokatharsis bilden die theoretische und praktische Basis der modernen ärztlichen Psychotherapie und gerieten zu Unrecht in Vergessenheit. Sie werden in diesem Beitrag charakterisiert und in ihrer zeitgenössischen Relevanz anhand unbeachtet gebliebener Fakten neu bewertet. Als Voraussetzung für die weitere Entwicklung der gesamten ärztlichen Psychotherapie muß die innerhalb dieser Konzepte erstmalig vorgenommene inhaltliche und wissenschaftssystematische Bestimmung der Begriffe „Vor- stellungskrankheit", „Psychische Therapie" und „Psychotherapeut" gelten. Eine der bedeutenden Leistungen Freuds bestand darin, sich diese Therapieformen anzueignen, praxisgeleitet mit ihnen zu operieren und sie dennoch nicht als gegeben hinzunehmen. Summary: The „presentistic" account which under the sway of psychoanalysis is dominating the litersture dealing with the history of psychotherapy needs emending, especially as far as the genesis of psychoanalysis is concerned. Hyp- notic suggestion, rational waking psychotherapy and psychocatharsis represent the theoretical and practical founda- tions of modern medical psychotherapy but undeservedly fell into oblivion. In the present article they are described, and their contemporary relevancy is reevaluated on the basis of hitherto disregarded material. The definition, from the content and the systematics of science point of view, of the terms „Vorstellungskrankheit", „psychische Therapie" and „Psychotherapeut" performed within these concepts for the first time must be looked upon as laying the groundwork for the further development of medical psychotherapy in its entirety. Freud must be given credit for having drawn on these types of therapy without taking them for granted. Die Entwicklung der modernen Psycho- therapie ist einerseits aus der Sicht des Ge- wordenen und Bestehenden rekonstruier- bar. Sie kann als ein schrittweiser und selek- tiver Annäherungsprozeß an ein sich als umfassend verstehendes psychotherapeuti- sches Konzept betrachtet werden, wie es in der Geschichtsschreibung der Psychoana- lyse üblich wurde (so Ellenberger, 1973; Lorenzer, 1984). Andererseits kann jede durchlaufene Entwicklungsstufe der Psycho- therapie für sich sprechen, ist es möglich, ihre typischen Aspekte und alternativen Ansätze zu entfalten und in dem entspre- chenden zeitgenössischen Kontext zu inter- pretieren. Eine solche prospektive Betrach- tungsweise wird im folgenden für die weit- gehend in Vergessenheit geratenen psycho- therapeutischen Konzepte der hypnotischen Suggestion, der rationalen Wachpsychothe- rapie und der Psychokatharsis einzunehmen versucht. Der Begriff des Konzeptes steht dabei für die planvolle Absicht, Therapie- technik und -theorie mit neurosen- und allge- meinpsychologischen Überlegungen zu ver- binden. Die erwähnten Konzepte bildeten zwar das Fundament für die Entstehung der Psy- choanalyse bzw. setzten bestimmte Rahmen- bedingungen für deren produktive Weiter- entwicklung, verloren aber nach dem Ersten Weltkrieg an Eigensiändigkeit und Rele- vanz. Die Gründe dafür sind komplexer Natur. So vertrat die Psychoanalyse von einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Entwick- lung an den Anspruch, die Psychotherapie als Ganzes in sich aufzuheben. Diese Posi- tion schmälerte sicher die theoretische und methodische Identität anderer Konzepte und beeinträchtigte deren Möglichkeiten einer Schulenbildung. Wesentlicher für die geringe innere Geschlossenheit und man- gelnde Resistenz ursprünglich erfolgreicher psychotherapeutischer Paradigmen scheint jedoch der Umstand gewesen zu sein, daß singuläre Methoden, Techniken und Prinzi- pien auch im Rahmen neuer methodologi- scher Überlegungen funktional blieben und 138 Psychologie und Geschichte

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Bausteine einer alternativen Psychotherapie geschichtsschreibung

Bausteine einer alternativenPsychotherapiegeschichtsschreibung: Suggestionstherapie,

rationale Wachpsychotherapie, Psychokatharsis

Christina Schröder

Zusammenfassung: Die in der Literatur zur Geschichte der Psychotherapie unter dem Einfluß der Psychoanalysedominierende präsentistische Darstellung bedarf insbesondere für die Entstehungszeit der Psychoanalyse einer Korrek-tur. Die hypnotische Suggestion, die rationale Wachpsychotherapie und die Psychokatharsis bilden die theoretischeund praktische Basis der modernen ärztlichen Psychotherapie und gerieten zu Unrecht in Vergessenheit. Sie werden indiesem Beitrag charakterisiert und in ihrer zeitgenössischen Relevanz anhand unbeachtet gebliebener Fakten neubewertet. Als Voraussetzung für die weitere Entwicklung der gesamten ärztlichen Psychotherapie muß die innerhalbdieser Konzepte erstmalig vorgenommene inhaltliche und wissenschaftssystematische Bestimmung der Begriffe „Vor-stellungskrankheit", „Psychische Therapie" und „Psychotherapeut" gelten. Eine der bedeutenden Leistungen Freudsbestand darin, sich diese Therapieformen anzueignen, praxisgeleitet mit ihnen zu operieren und sie dennoch nicht als

gegeben hinzunehmen.

Summary: The „presentistic" account which under the sway of psychoanalysis is dominating the litersture dealingwith the history of psychotherapy needs emending, especially as far as the genesis of psychoanalysis is concerned. Hyp-notic suggestion, rational waking psychotherapy and psychocatharsis represent the theoretical and practical founda-tions of modern medical psychotherapy but undeservedly fell into oblivion. In the present article they are described,and their contemporary relevancy is reevaluated on the basis of hitherto disregarded material. The definition, from thecontent and the systematics of science point of view, of the terms „Vorstellungskrankheit", „psychische Therapie" and„Psychotherapeut" performed within these concepts for the first time must be looked upon as laying the groundworkfor the further development of medical psychotherapy in its entirety. Freud must be given credit for having drawn on

these types of therapy without taking them for granted.

Die Entwicklung der modernen Psycho-therapie ist einerseits aus der Sicht des Ge-wordenen und Bestehenden rekonstruier-bar. Sie kann als ein schrittweiser und selek-tiver Annäherungsprozeß an ein sich alsumfassend verstehendes psychotherapeuti-sches Konzept betrachtet werden, wie es inder Geschichtsschreibung der Psychoana-lyse üblich wurde (so Ellenberger, 1973;Lorenzer, 1984). Andererseits kann jededurchlaufene Entwicklungsstufe der Psycho-therapie für sich sprechen, ist es möglich,ihre typischen Aspekte und alternativenAnsätze zu entfalten und in dem entspre-chenden zeitgenössischen Kontext zu inter-pretieren. Eine solche prospektive Betrach-tungsweise wird im folgenden für die weit-gehend in Vergessenheit geratenen psycho-therapeutischen Konzepte der hypnotischenSuggestion, der rationalen Wachpsychothe-rapie und der Psychokatharsis einzunehmenversucht. Der Begriff des Konzeptes stehtdabei für die planvolle Absicht, Therapie-technik und -theorie mit neurosen- und allge-

meinpsychologischen Überlegungen zu ver-binden.

Die erwähnten Konzepte bildeten zwardas Fundament für die Entstehung der Psy-choanalyse bzw. setzten bestimmte Rahmen-bedingungen für deren produktive Weiter-entwicklung, verloren aber nach dem ErstenWeltkrieg an Eigensiändigkeit und Rele-vanz. Die Gründe dafür sind komplexerNatur. So vertrat die Psychoanalyse voneinem bestimmten Zeitpunkt ihrer Entwick-lung an den Anspruch, die Psychotherapieals Ganzes in sich aufzuheben. Diese Posi-tion schmälerte sicher die theoretische undmethodische Identität anderer Konzepteund beeinträchtigte deren Möglichkeiteneiner Schulenbildung. Wesentlicher für diegeringe innere Geschlossenheit und man-gelnde Resistenz ursprünglich erfolgreicherpsychotherapeutischer Paradigmen scheintjedoch der Umstand gewesen zu sein, daßsinguläre Methoden, Techniken und Prinzi-pien auch im Rahmen neuer methodologi-scher Überlegungen funktional blieben und

138 Psychologie und Geschichte

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schlichtweg adaptiert werden konnten. The-rapietheorien, die solche Methoden undPrinzipien ehedem legitimiert hatten und ineinem therapeutischen Kalkül erstmalshandhabbar werden ließen, wurden entbehr-lich. Differenziertere und originellere Rich-tungen sogen sie auf. Für den größeren Teildes Fachpublikums verloren sie ihre histori-sche Kontinuität, auch wenn in Monogra-phien und Lehrbüchern über Hypnose undSuggestion oder Psychagogik den Anfän-gen immer wieder gedacht wurde. Im Mittel-punkt der vorliegenden Ausführungenstehen deshalb sowohl methodische alsauch theoretische Grundlagen der neuzeitli-chen ärztlichen Psychotherapie, deren Inno-vationskraft für eine bis heute anhaltendeEntfaltung psychotherapeutischen Denkensund Handelns sorgte.

Die Beziehung vieler Ärzte zu denfrühen Formen psychotherapeutischer Inter-vention innerhalb der deutschsprachigenMedizin war eng und stellte oft eine reifeindividuelle Lösung typischer Praxisanfor-derungen ihrer Zeit dar. Inwieweit sich z.B.der junge Freud bereits existierende und pra-xiswirksame Konzepte der Psychotherapieaneignen mußte, um von ihnen späterbewußt Abstand nehmen zu können, bliebfür die Frühgeschichte der Psychoanalysebislang ein relativ randständiges Problem.Das lag in erster Linie an dem hier nicht zudiskutierenden Konsens der Psychoanalyti-ker, ihre Unabhängigkeit von der etabliertenMedizin auch für die historische Genese derDisziplin als erwiesen zu betrachten.Dadurch wurde eine wertvolle Perspektiveder eigenen fachlichen Entwicklung ver-schenkt. Trotz des gegenwärtig bescheide-nen Platzes suggestiver, kathartischer undrationaler Methoden klassischen Stils imRepertoire und der Indikationsstellung derPsychotherapie sollten deshalb die zugrun-deliegenden Konzepte im Interesse eines tie-feren Verständnisses der Wurzeln desFaches in der gesamten Medizin wieder inihre erworbenen Rechte eingesetzt werden.Es geht darum, sie in ihrer Eigenschaft zuwürdigen, bahnbrechend und programma-tisch gewesen zu sein und in einer entschei-denden Phase der Disziplinbildung die Psy-chotherapie als solche repräsentiert zuhaben.

1. Die hypnotische Suggestion

Nachdem der Siegeszug der naturwissen-schaftlich fundierten Medizin in Deutsch-land unreflektierte psychotherapeutischeAnsätze, die insbesondere im Magnetismuseine reiche empirische Basis besaßen, zueiner jahrzehntelangen Latenz verurteilthatte, änderte sich die Situation gegen Endeder 70er Jahre des 19. Jahrhunderts schlagar-tig. Die offizielle Medizin konnte dem ganz-heitlichen Charakter ihres Gegenstandesnur ungenügend gerecht werden und stießan die ihr immanenten Grenzen psychoso-zialer Kompetenz. Unzufriedene Patienten,oft an nervösen Symptomen leidend, derenHäufigkeit in der Gesellschaft Besorgnis zuerregen begann, wandten sich Naturheilkun-digen und Heilmagnetiseuren zu. Magneti-seure wie Hansen und Donato zogen durchEuropa und setzten ihre Kunst spektakulärin Szene. 1 Die Mediziner fühlten sich her-ausgefordert, weil das Phänomen Hypnosenach einer natürlichen Erklärung verlangte.In Deutschland begann infolgedessen einePhase der intensiven experimentellen Unter-suchung der Hypnose. Da vor allem Physio-logen das Fundament der naturwissenschaft-lichen Medizin errichtet hatten, traten sienun auch zu dessen Verteidigung an. In sol-chen Experimenten, die regelhafte körperli-che Reaktionen im hypnotischen Prozeßdeutlich werden ließen, offenbarte sich balddie psychosomatische Qualität der Hypnose(Schröder, 1986). Ihre psychologischeBedeutung lag somit auf der Hand, ihrerAnerkennung als neuartiger therapeutischerMethode mit natürlichen Mitteln standjedoch u.a. die Autorität eines Charcot ent-gegen, der den hypnotischen Zustand als einBegleitsymptom der Hysterie und damit alskrankhaft bestimmte. Das kam einemVerbot der allgemeinen therapeutischen Ver-wendung der Hypnose gleich. Ein wissen-schaftshistorischer Verdienst des bekanntenNeurologen Jean-Martin Charcot(1825-1893) bestand darin, die Wesensver-wandtschaft zwischen hypnotischen undhysterischen Erscheinungen aufgedeckt zuhaben.

Aus Frankreich kam zugleich der ent-scheidende Impuls für ein psychologisch-therapeutisches Verständnis der Hypnose.

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Bausteine einer alternativen Psychotherapiegeschichtsschreibung

Die Vertreter der Schule von Nancy,Ambroise Auguste Liébault (1823-1904)und Hyppolite Bernheim (1840-1919),betrachteten die Hypnose als einen norma-len psychophysischen Vorgang, der übereine suggerierte Schlafvorstellung zustandekomme. Sie gingen davon aus, daß die inHypnose empfangenen (also fremdsugge-rierten) Vorstellungen die Tendenz besitzenwürden, sich in Innervationen umzusetzen(sogenanntes ideoplastisches Vermögen sug-gerierter Vorstellungen). Dadurch bot sichdie Hypnose geradezu als ein therapeuti-sches Vermittlungsagens an. Diese eindeu-tig psychologische Suggestionstheoriestellte die Voraussetzung für eine generelletherapeutische Verwendung der Hypnosedar, denn sie erklärte die Wirkungsweisedes therapeutischen Eingriffes in seinerdurchschnittlichen individuellen Form. Siefand in der deutschsprachigen Medizinrasch eine beträchtliche Anhängerschar,weil sie mit den persönlichen Erfahrungender Nervenärzte, Internisten und Psychiaterübereinstimmte, die die Hypnose ausMangel an adäquaten therapeutischenMethoden für nervöse Patienten ohne orga-nischen Befund und unter dem Eindruck desErfolges der Heilmagnetiseure längst aus-probiert hatten. Das sollte rückblickendnicht über die naiv-psychologische Natursolcher Erklärungsweisen hinwegtäuschen.Sie bedienten sich des mechanischen Asso-ziationsmodells, das die zeitgenössischeakademische Psychologie schon zu überwin-den begann. Noch Jahrzehnte lang blieb espsychologischen Metatheorien innerhalbder Psychotherapie eigen, den Erkenntnis-stand der Schulpsychologie weitgehend zuignorieren, was sowohl Vorteile als auchNachteile für die Entwicklung der Psycho-therapie mit sich brachte und bis zum heuti-gen Tag zu ungelösten Beziehungsproble-men zwischen praktischer Psychotherapieund Schulpsychologie beiträgt.

In nur wenigen Jahren formierte sicheine selbstbewußte Gruppe sogenannterHypnoseärzte, die mit Engagement undinnerer Überzeugung von der Notwendig-keit ihres Handelns die Suggestionslehre imAnschluß an die Schule von Nancy prak-tisch und theoretisch zu untermauernsuchte. Die hypnotische Suggestion entwik-

kelte sich in den Händen dieser Ärzte, dieaus ganz Europa nach Nancy strömten, umzu lernen, zu einer therapeutischen Speziali-tät, die sich von allen bekannten Therapie-formen durch die Qualität ihres Agens unddie Einstellung der Ausübenden unterschei-den sollte. Der Hypnosearzt stellte erstmalsinnerpsychische Prozesse des Patienten insein therapeutisches Kalkül und glaubte aneine Wechselwirkung physischer und psy-chischer Vorgänge. Solche Ärzte warenkrasse Außenseiter einer nach wie vor soma-tisch und reduktiv orientierten Medizin.Trotzdem gelang es ihnen, sich als eine inter-nationale Wissenschaftlergemeinschaft zukonstituieren, die eine neue medizinischeDisziplin begründete und die innerhalb derGesellschaft vorhandenen förderndenImpulse aufzugreifen verstand. AugustForel (1848-1931), Albert Moll (1862-1939), William Preyer (1841-1907), OskarVogt (1870-1959) u.v.a. rangen in derdeutschsprachigen Medizin um die wissen-schaftliche Anerkennung des sogenanntentherapeutischen Hypnotismus 2(Schröder,1989). Die deutschsprachige Medizin nahmbald eine Vormachtstellung ein. Dennochblieben Geist und Anliegen dieser ärztli-chen Bewegung international.

Die florierende Praxis des niedergelasse-nen Nervenarztes der 80er und 90er Jahredes 19. Jahrhunderts wäre ohne die Hyp-nose undenkbar gewesen. Das zur Verfü-gung stehende singuläre psychotherapeuti-sche Verfahren wurde gewissenhaft über-prüft. Es war üblich, eigene Erfahrungen inForm von Krankengeschichten, Indikations-empfehlungen und Behandlungsstatistikenfestzuhalten. Bereits 1888 erschien eineBibliographie des Hypnotismus, die 812Titel umfaßte (Dessoir, 1888). Aus der Viel-zahl statistischer Übersichten (so Wetter-strand, 1891), ragt die Veröffentlichung derNiederländer A.W. van Rentherghem(1845-1939) und F. van Eeden (1860-1932)aus dem Jahre 1894 heraus, die Angabenvon 1098 Patienten aus dem Zeitraum von1889-1893 enthält. Die Krankengeschichtestellte das wichtigste Kommunikationsmit-tel des ausprobierenden und konkretisieren-den Therapeuten der Hypnoseära dar unddokumentiert heute seine symptomzen-trierte Strategie. Den Erfolg hielt man von

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Christina Schröder

der Fähigkeit des Arztes abhängig, dieMethode an die spezifische Situation unddie individuellen Voraussetzungen desPatienten anpassen zu können. So begrüßtedie Redaktion der Zeitschrift für Hypnotis-mus Freuds erste kathartischen Versuche alseine gelungene Anwendung der Hypnoseauf den einzelnen Fall (Schröder, 1986).

Der folgende Ausschnitt aus einemBrief Oskar Vogts an August Forel kanneinen Eindruck von der empirischen Breiteder Hypnosetechnik vermitteln. Vogt warvon dem vielgepriesenen Lehrmeister Forelmit dem Hypnotismus vertraut gemachtworden und avancierte durch dessen Für-sprache zu Forels Nachfolger als Herausge-ber der Zeitschrift für Hypnotismus. AlsAssistent des Leipziger Lehrstuhlinhabersfür Psychiatrie Paul Flechsig (1847-1929),der sich nicht als Kliniker, sondern als Hirn-forscher profiliert hatte, schrieb Vogt am7.11.1895:

„Ich mache ja viel, beinahe bei der so Zeit rauben-den Arbeit, zu viel in Hypnose. Ich habe auf derMännerseite, wie auf der Frauenseite (hier einedreimal stärkere) eigene hypnotische Abteilung.Ich muß Flechsig dafür dankbar sein, daß er mirso freies Spiel läßt. Ich habe noch einen Collegenangelernt, weil mir die Sache sonst zu vielwurde. Es giebt hier eine Unmenge Psychopat-hen. Ich habe an einzelnen Tagen 50 Personenhypnotisiert. Sie werden sich aber denken kön-nen, daß ich dann neben einer genauen klini-schen Beobachtung zu nichts anderem komme"(Walser, 1968, S. 304-305).

Vogt wies nicht ohne Grund auf die Zusam-mensetzung seiner als bedürftig erachtetenKlientel aus „Psychopathen" hin. Es galtunter den wenigen der Hypnoseproblematikzugänglichen Psychiatern als bewiesen, daßklassische psychiatrische Krankheitsbildernur schwerlich mit Hypnose und Gegensug-gestion zu behandeln seien. Die autosugge-stiv stark verfestigten, weitverzweigten Vor-stellungskomplexe des Wahns oder derManie würden solchen Versuchen widerste-hen. Außerdem verhinderten in den Anstal-ten Zeitmangel und ungünstige äußereBedingungen auch noch in den folgendenJahrzehnten einen nennenswerten Erfolgder Suggestionstherapie (Schröder, 1986).Psychiater wie Emil Kraepelin (1856-1926), die sich aufgeschlossen gegenüber

der Hypnose zeigten, behielten sie deshalbausdrücklich der Privatpraxis vor (Kraepe-lin, 1983). Unter diesem Aspekt muß VogtsInitiative als therapeutische Episode imRahmen einer Universitätsklinik gewertetwerden.

Zu den bedeutsamen wissenschaftsorga-nisatorischen Aktivitäten der Suggestions-therapeuten gehörte die Gründung der „Zeit-schrift für Hypnotismus, Suggestionsthera-pie, Suggestionslehre und verwandte psy-chologische Forschungen" (Verlag Her-mann Brieger, Berlin) im Jahre 1892, die1894 in „Zeitschrift für Hypnotismus, Psy-chotherapie sowie andere psychophysiologi-sche und psychopathologische Forschun-gen" umbenannt wurde. Sie ist die erstedeutschsprachige psychotherapeutischeFachzeitschrift. 1894 führte die Redaktiondieser Zeitschrift eine Gutachtensammlunggegen die gesetzliche Einschränkung desHypnotisierens zu medizinischen Zweckenim zaristischen Rußland durch, an der sich25 namhafte Mediziner Europas mit diffe-renzierten Stellungnahmen zum therapeuti-schen Wert der Hypnose und der Suggestionsowie deren Platz in der Medizin beteiligten(Grossmann, 1894).

Bei der notwendigen theoretischen Aus-einandersetzung mit ihrem Gegenstandgelangten die Suggestionstherapeutenschließlich zu zwei Erkenntnissen, die fürdie weitere Entwicklung der ärztlichen Psy-chotherapie die Weichen stellen sollten:

1. Ausgehend von der ätiologischenAnnahme, eine pathogene Vorstellungrufe das Krankheitsbild hervor, schufensie den Begriff „Vorstellungskrankheit".

2. In Abstraktion von der hypnotischen Sug-gestion bzw. Wachsuggestion als jeweilsverschiedenen Methoden psychischerBeeinflussung gingen sie gezielt zu demGebrauch des Oberbegriffes „psychischeTherapie" über.

Auch Freud vollzog diesen entscheidendenSchritt, ehe er die konzeptionelle Begrün-dung der psychoanalytischen Therapietheo-rie überhaupt in Angriff nehmen konnte. Erschrieb 1890 in dem Lexikonartikel „Psychi-sche Behandlung (Seelenbehandlung)":

„Man darf sich der Erwartung hingeben, daß die

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Bausteine einer alternativen Psychotherapie geschichtsschreibung

zielbewußte moderne Seelenbehandlung, ..., denÄrzten noch weit kräftigere Waffen zum Kampfgegen die Krankheit in die Hände geben wird.Eine tiefere Einsicht in die Vorgänge des Seelen-lebens, deren erste Anfänge gerade auf den hyp-notischen Erfahrungen ruhen, wird Mittel undWege dazu weisen" (1975, S. 35).

Auf diese Weise ebneten die Suggestionsthe-rapeuten den Weg zu einem komplexen Psy-chotherapieverständnis, in dessen Rahmenunterschiedliche Methoden und Zielstellun-gen zur Geltung kommen konnten. Begrif-fen als psychische Therapie, hatte die Sugge-stionstherapie ihre methodische Enge auseigener Kraft überwunden. Sie war in eingenauer umschriebenes Verhältnis zur nicht-psychischen ärztlichen Therapie getreten.Nun konnte sie erstmals den Anspruch erhe-ben, eine selbständige medizinische Diszi-plin zu verkörpern. Angelehnt an den engli-schen Hypnosearzt D. Hack Tuke(1827-1895) benutzte van Eeden 1892 erst-malig den Begriff "Psychotherapie" unddefinierte diese in einem übergreifendenmedizinischen und wissenschaftssystemati-schen Zusammenhang: „Ich nenne Psycho-therapie jedes Heilverfahren, welches sichpsychischer Agentien bedient, um eineKrankheit vermittels Einwirkung auf diepsychischen Funktionen zu heilen"(1892/93, S. 56). Er trat mit dieser Defini-tion auf dem II. Internationalen Kongreß fürexperimentelle Psychologie in London auf,der Psychologen und ärztliche Psychothera-peuten noch zusammenführte. Sein Vortragwurde umgehend in der Zeitschrift für Hyp-notismus veröffentlicht.

Trotz langer Vergangenheit sei die Psy-chotherapie als Wissenschaft und in ihrerkonsequenten praktischen Anwendung neu,weil sie erörtert wissen wolle „auf welcheArt man den psychischen Reiz am bestenzur Wirkung bringen kann, wie man seineWirksamkeit zu kontrollieren vermag, wieweit die Möglichkeit ... vorliegt, abnorme,äußere, chemische, elektrische oder mecha-nische Reize durch psychische Reize zuersetzen" (van Reniherghem & van Eeden,1895, S. 109). Ein Spezialarzt müsse es über-nehmen, dieses Gebiet zu vertreten. Solcheund ähnliche Überlegungen finden sich ab1895 in zahlreichen Veröffentlichungen.Die Hypnoseärzte identifizierten sich

schnell mit dem neuen Begriff, der ihre pro-fessionelle Leistung unterstrich und bezeich-neten sich selbst als Psychotherapeuten.1896 erschien eine Monographie mit demTitel „Der Psychotherapeut" des Nervenarz-tes Heinrich Stadelmann, die von demneuen Selbstverständnis des Spezialarzteszeugte.

Der Bezug des ersten methodisch durch-dachten Psychotherapiekonzeptes zur Medi-zin blieb eng. Im wesentlichen wurden Stö-rungen der nicht willkürlich steuerbarenFunktionen behandelt. Das setzte eine Beto-nung der psychosomatischen Ganzheitlich-keit der relevanten Prozesse voraus, dieallein den beabsichtigten Verbleib in derMedizin garantierte. Zwischen psychologi-scher Initiation und möglichem Endeffektsah man einen physischen Vermittlungspro-zeß gegeben, der medizinisches Wissen undKönnen verlangte. Ebensowenig wurdegegen das kausalgenetische Modell dernaturwissenschaftlichen Medizin versto-ßen, das eine von außen gesetzte, umschrie-bene Noxe postulierte, die sich in einemSymptom offenbare — diese konnte nun inForm der pathogenen Vorstellung auch psy-chischen Charakter tragen. Das Hauptzielder Suggestionstherapeuten bestand letzt-lich in der Beseitigung psychophysischerFehlregulationen. Sie bedienten sich dazudes suggestiven Befehls, der ohne Kenntnisdes lebensgeschichtlichen Sinnzusammen-hangs des Symptoms in einem isoliertenBehandlungsakt vermittelt werden konnte.Der Arzt konzentrierte sich auf die aktuelleSituation, der hypnotisierte Patient wardabei seiner Wesensentäußerung beraubt.Auf diese Weise wurde eine symptomzen-trierte Psychotherapie möglich, in der per-sönlichkeitstheoretische und soziale Inhaltenoch keine Rolle spielten und auch nichtspielen durften, um diese Art der Therapieinnerhalb der naturwissenschaftlichen Me-dizin legitimieren zu können.

Aus heutiger Sicht imponiert das persön-liche Engagement und die Kommunikations-fähigkeit dieser Ärzte. Sie scheuten keineKontroverse und trugen dafür Sorge, daß ihrWissen und Können institutionalisiert wei-tergegeben werden konnte und eine fachspe-zifische Reproduktion gewährleistet schien.Technische Schwierigkeiten bei der Einlei-

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tung der Hypnose, affektive Störungen derTherapeut-Patient-Beziehung und ethischeVorbehalte ließen dieses geschlossene Kon-zept trotz seiner Erfolge jedoch nach undnach revisionsbedürftig erscheinen.

2. Die rationale Wachpsychotherapie odererziehliche Psychotherapie

In Kontraposition und mit einer methodolo-gischen Erneuerungsabsicht profilierte sichab 1890 ein heute kaum noch beachtetes psy-chotherapeutisches Konzept, dessen prakti-sche Relevanz für die gesamte Medizin bis1914 die sich parallel dazu entwickelndePsychoanalyse bei weitem übertraf. Esfußte auf einer direkten weltanschaulichenAbsicht seiner ärztlichen Verfechter. EinigeMediziner fühlten sich aus berufsethischenGründen verpflichtet, den nervösen Degene-rationserscheinungen des bürgerlichen Mit-telstandes durch die Mobilisierung individu-eller Reserven entgegenzutreten. Psychothe-rapie als eine nur von dem persönlichen Ein-satz des Arztes abhängige und ausglei-chende Methode schien dafür prädestiniert.Sie sollte der Gesellschaft aufwendigesoziale Gegenmaßnahmen ersparen helfen.Dieser Weg war nicht für alle Medizinerselbstverständlich, er hatte sich in demsozialdarwinistischen Klima der Jahrhun-dertwende neben einer möglichen Entschei-dung für repressive und eugenische Maßnah-men zu behaupten. Die psychotherapeutischinteressierten Mediziner waren davon über-zeugt, daß nervöse Leiden reversibel odermilderungsfähig sind, und konnten auf dieTradition der bürgerlichen Philosophie ver-weisen, die Selbstbeherrschung des Men-schen zu dessen Vervollkommnung angeru-fen zu haben. Ihre konkreten Erwägungenüber die Ursachen der Nervosität ordnetensich in die zeitgenössische Neurastheniedis-kussion ein.

Neurasthenie war zur Jahrhundert-wende zu einem kulturpessimistischenModebegriff avanciert. Eine gezielte psy-chotherapeutische Einwirkung sollte denKonflikt des Neurasthenikers, vermutet zwi-schen dessen Lebenspraxis und bürgerli-chen Lebensnormen, beseitigen. Neurasthe-nie wurde übereinstimmend als Ausdruck

eines individuellen Verstoßes gegen psycho-hygienische Grundregeln betrachtet, der ausMangel an Willenskraft und Selbstdisziplinauf Kosten der Affektbeherrschung erfolge.Wille und Affekt sowie die Kennzeichnungihrer Funktionsuntüchtigkeit (Abulie undAffektlabilität), welche den unterstelltenmorbiden Charakter einer solchen Störungnahelegten, bildeten die Leitbegriffe desneuen Konzeptes.

Der Therapeut hielt als Vertreter desöffentlichen Gewissens den Patienten dazuan, bestimmte gesellschaftliche Normen zuverinnerlichen. Der psychotherapeutischeAuftrag des Arztes war damit erstmaligeiner medizinischen Symptombehandlungentwachsen und ordnete sich in einen gesell-schaftlichen Gesamtzusammenhang ein:Psychotherapie sollte einen volitiven Aktdes einzelnen provozieren, welcher derGesellschaft erlaubte, auf subjektive Reser-ven zurückzugreifen, die sie selbst verschüt-tet hatte und zu denen ihr andere Wege ver-sagt blieben. Für die Definition und thera-peutische Gegenstrategie eines solchenLebenskonfliktes waren persönlichkeits-theoretische Aussagen unabdingbar. Siemußten über das Versagen des Subjektes inseinem sozialen Bezugssystem und die ihmoffenstehenden Veränderungsmöglichkei-ten getroffen werden. Es kam vor allemdarauf an, die subjektive Bewertung desKonfliktes durch den Betroffenen selbst inden Dienst der Therapie zu stellen.

Als Prototyp des rational orientiertenPsychotherapeuten erscheint rückblickendder Schweizer Nervenarzt Paul Dubois(1848-1918), der an die Existenz einer bür-gerlichen Elite glaubte, die der Selbsterzie-hung mächtig sei und eine Führerrolle aufdem stetigen Weg zum Fortschritt spielenwerde. Dubois' spezifische Methode, die erPersuasion nannte, wird heute oft unkorrek-terweise als Synonym für die gesamte ratio-nale oder erziehliche Psychotherapie ge-braucht.

Im Mittelpunkt der erziehlichen Thera-pie stand — aufbauend auf dem Fundamentder Suggestionstheorie — ebenfalls der pa-thogene Vorstellungskomplex, der nunjedoch durch Wille und Einsicht, nichtdurch den suggestiven Befehl ausgelöschtwerden sollte. Willenskraft und bewußte

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Bausteine einer alternativen Psychotherapie geschichtsschreibung

Vorsatzbildung waren die entscheidendenenergetischen Regulatoren, die ein psycho-therapeutischer Eingriff zu aktivieren hatte.Der Vernunftsentscheidung des Arztes zudankende richtige Vorstellungen sollten mitHilfe eines didaktisch gestalteten Interven-tionsprozesses in den Patienten „einge-pflanzt" werden. Der Patient erlebte die Ein-wirkung bewußt und hatte sich kognitiv undemotional mit ihr auseinanderzusetzen.

Ottomar Rosenbach (1851-1907), sei-nes Zeichens Internist und ein geistigerVater dieser Therapie, schrieb 1890:

Die erziehliche Therapie sei diejenige, „die, vonder Analyse der krankhaften Erscheinungen aus-gehend, unter steter Berücksichtigung der Indivi-dualität des Patienten die stets vorhandene fehler-hafte, auf unrichtigen Vorstellungen beruhendeInnerv ation durch methodische Belehrung,durch Übung der pervers agierenden Muskeln,durch Kräftigung des Willens und der Wider-standskraft in richtige Bahnen zu lenken ver-sucht" (S. 3).

Er sprach damit zwei Möglichkeiten derindirekten Beeinflussung des Willens an,die bis zum Ersten Weltkrieg zu einemMethodensystem der erziehlichen Therapieausgebaut wurden — die rationale Schulungder Urteilsbildung (hierzu wäre die Persua-sion zu zählen) und das Üben fehlerhafterFunktionen (sogenannte Willensgymnastik).

Der wesentliche Unterschied zwischenverbaler Überzeugung und herkömmlicherSuggestionstechnik bestand in einer psycho-logisch durchdachten Gesprächsführung. Ineinem Dialog wurde nach dem beschriebe-nen Konflikt gesucht, wurden Lebensge-schichte und Lebensweise des Patientendahingehend erörtert. Den definierten Kon-flikt unterzog der Therapeut einer morali-schen Bewertung. Mit ihrer Methodenviel-falt bewegten sich die Psychagogen zwi-schen beispielgebender Empathie sowieToleranz und angemaßter Autorität ebensowie zwischen wohldosierter positiver Rück-meldung und dem Einsatz von Schreck undFurcht. Aus der Gruppe singulärer Verfah-ren zur Willensdisziplinierung, die einenLernprozeß durch Verstärkung und Vermei-dung ähnlich der späteren Verhaltensthera-pie bewirken sollten, sei auf L. HirschlaffsRuhe- und Konzentrationsübungen mitdazugehörigen Apparaten (Hirschlaff,

1911) und A. Molls Assoziationstherapiefür Homosexuelle (Moll, 1911) verwiesen.Sie demonstrieren in ihrer Eigenart die Ver-wurzelung der Psychagogik in der assozia-tionspsychologischen Vorstellungsdynamikund das Bemühen, in den Alltag der nerven-ärztlichen Praxis Eingang zu finden. Erfolg-reiche Psychagogen waren vor allem nam-hafte Internisten (neben Rosenbach seinSchüler F.C.R. Eschle und A. Strümpell),die über den krankheitsauslösenden Vorstel-lungsmechanismus einen umschriebenenpsychogenen Anteil verschiedener Dysfunk-tionen naturwissenschaftlich aufklären zukönnen meinten.

Die beachtliche Anerkennung durch diezeitgenössische Medizin hatte die erziehli-che Therapie auch einem Zweckbündnismit der Anstaltspsychiatrie zu danken, daseine Bewegung zur Gründung von Volks-heilstätten für „minderbemittelte Nerven-kranke" auslöste. In deren Verlauf wurdeu.a. die private Nervenheilanstalt HausSchönow in Berlin eröffnet (Schröder,1986). Die Arbeitstherapie bedeutete fürjene Psychiater und Psychagogen eine voll-kommen natürliche Umsetzung ihres Pro-grammes der Befähigung zur Selbstdiszipli-nierung. Nach dem Ersten Weltkrieg verlordie erziehlich-rationale Wachpsychothera-pie ihre Konturen, nicht zuletzt, weil esihren Vertretern nur ungenügend gelungenwar, eine Schule ins Leben zu rufen, die dasfachspezifische Wissen traditionsbewußtweiterentwickelte. Ihre Substanz war imwesentlichen ausgeschöpft und sie ging invielfältigen Varianten, vor allem in kognitivausgerichtete Psychotherapieformen ein.

3. Freuds Verhältnis zu beiden Konzepten

Freud gehörte der Garde der Hypnoseärztenicht nur einige Jahre an, sondern es gelangihm, die wissenschaftliche Debatte um denHypnotismus zu befruchten und voranzutrei-ben. Er war bei Charcot, dem Wiener Hein-rich Obersteiner (1847-1922), der 1887 eineklinische Studie über die Hypnose veröffent-lichte, und Bernheim in die Lehre gegan-gen, pflegte Kontakte zu Forel und wirktedrei Jahre lang als Mitherausgeber der Zeit-schrift für Hypnotismus (Kästner & Schrö-der, 1989). Darüber hinaus war er mit der

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erziehlichen Therapie durch eine regeRezensionstätigkeit (Kästner & Schröder,1989) so gut vertraut, daß er in „Ein Fall vonhypnotischer Heilung", seinem Originalbei-trag zum ersten Band der Zeitschrift für Hyp-notismus (1892/93), in deren Stil zu argu-mentieren in der Lage war und mit seinerfrühen Neurosenklassifikation dem allge-mein angenommenen rationalen Charakterder reinen Neurasthenie gerecht zu werdensuchte. Er stellte die Neurasthenie ebenfallsin einen Zusammenhang von schädigenderÜberforderung und Funktionsstörung, demdurch Aufklärung und Ruhe zu begegnensei. Noch in der Arbeit „Die kulturelleSexualmoral und die moderne Nervosität"von 1908 zollte er der beschriebenen ärztli-chen Gesinnung in der Ableitung und Wer-tung des nervösen Symptombildes den nöti-gen Tribut.

Freud hatte — wie aus seinen Briefen anFliess ersichtlich — mit recht verhaltenerBegeisterung den mühsamen Weg der hyp-notischen Suggestion mit allen Tückenaber auch Erkenntnismöglichkeiten durch-schritten. Wie ausdauernd er an der Tech-nik feilte und die Wirkung der Prozedur zuverbessern trachtete, wird noch aus eineranderen Perspektive deutlich: Reicheneder(1983) konnte zeigen, daß Freud die kathar-tische Analyse erst mit wachsender Ein-sicht in die Verdrängungsvorgänge derAffekte im Sinne einer neuen Methodehandhaben konnte. Nach mehreren Jahrennervenärztlicher Routine wollte Freud, denErfahrungen Breuers mit Anna 0. entlehnt,zuerst lediglich etwas mehr über die Entste-hungsgeschichte der Symptome eruieren,um sie dann umso besser „Ein- und Ausre-den" zu können. Das entsprach nicht derkathartischen Methode in ihrer Endgestalt,die eine bestimmte theoretische Erklärunghysterischer Affekte zur Voraussetzunghatte. Mindestens bis zum Erscheinen dergemeinsam mit Breuer verfaßten „Vorläufi-gen Mitteilung" von 1893 habe Freud alsonicht die Katharsis entwickelt, sondern seivon der „Widerständigkeit des Symptoms"(Reicheneder, 1983, S. 240) dazu gezwun-gen worden, Hypnose und Suggestion zuvariieren.

Freuds Übersetzung der MonographieBernheims „Die Suggestion und ihre Heil-

wirkung" aus dem Jahre 1888 ließ dendeutschsprachigen Ärzten das suggestions-theoretische Konzept erstmals in seinerGesamtheit zugänglich werden und bot ihmselbst Anlaß, sich öffentlich zur therapeuti-schen Leistungsfähigkeit der Hypnose zubekennen sowie die Belange einer psycho-therapeutischen Praxis seine eigenen zu nen-nen. Freuds Bekenntnis zur Suggestionsthe-rapie sowie sein Bemühen, Hysterie undtraumatische Neurose differentialdiagno-stisch abzugrenzen, bescherte ihm eineunangenehme Kontroverse mit seinemLehrer Theodor Meynert (1833-1892). Erwurde von diesem als Hypnotiseur gebrand-markt (Hirschmüller, 1989, S. 45).3 DieseKontroverse war in eine Diskussion derWiener Ärzteschaft über den Wert der Hyp-nose eingebettet (vgl. Fichtner & Hirschmül-ler, 1988), die sich wiederum in die zeitge-nössische Gesamtdebatte des Hypnotismuseinordnete.

Um die Objektivität des Krankheitsbil-des Hysterie zu sichern, konnte Freud Bern-heims psychologische Hypnoseauffassungnur bedingt teilen und beharrte konsequentauf einer psychophysiologischen Erklä-rungsebene, welche die Simulation hysteri-scher Symptome ausschloß. Seine eigeneHypnosepraxis stützte sich dennoch aus-drücklich auf das Bernheimsche Verfahren.1890 und 1891 stellte Freud die Vorzüge,Fehler und Indikationsbreite der Suggestionin Hypnose sachlich-kritisch in medizini-schen Sammelbänden dar. Es handelt sichdabei um Handanweisungen, die bereits all-gemeinere Komponenten des psychothera-peutischen Handelns, wie die Wirkung derPerson des Arztes, zu berücksichtigen such-ten. Die Mängel der Hypnose wurden auseiner Übersicht heraus bestimmt, die Freudschon als den Psychotherapeuten erkennbarwerden lassen, der die Rahmenbedingungender Arzt-Patient-Beziehung in seineBetrachtungen einbezog (vgl. Kästner &Schröder). Seine berechtigte Kritik an derEntmündigung des Patienten durch die Hyp-nose formulierte er jedoch eindeutig erst ineiner Anmerkung zu den von ihm übersetz-ten Poliklinischen Vorträgen Charcots:„Weder Arzt noch Patient vertragen aufDauer den Widerspruch zwischen der ent-scheidenden Leugnung des Leidens in der

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Bausteine einer alternativen Psychotherapie geschichtsschreibung

Suggestion und der notwendigen Anerken-nung desselben außerhalb der Suggestion"(in Charcot, 1894, S. 286).

In diesen frühen Arbeiten ist er nochganz von dem ursprünglichen Geist der hyp-notischen Suggestion gefangengenommen,der einer Generation naturwissenschaftlichausgebildeter Ärzte eine methodisch durch-dachte und vergleichbare psychische Beein-flussung ihrer Patienten ermöglicht hatte.Auch die schon erwähnte Arbeit „Ein Fallvon hypnotischer Heilung nebst Bemerkun-gen über den Einfluß des Gegenwillens"trägt dem Anliegen der HypnosebewegungRechnung, obwohl darin die Ansätze einerNeurosentheorie formuliert sind, die denRahmen der Suggestionstheorie grundsätz-lich sprengen sollten. „Ein Fall von hypnoti-scher Heilung" dokumentiert heute, bis zuwelchem Punkt seiner weiterführendenÜberlegungen Freud es für angebracht hielt,einen erkennbaren Bezug zu den vorhande-nen psychotherapeutischen Konzepten her-zustellen. In dem nur wenige Monatespätererschienenen Artikel „Über den psychi-schen Mechanismus der hysterischen Phäno-mene" (1893) in der Wiener medizinischenPresse (Abdruck eines Vortrages vor demWiener medizinischen Club) spielen dieBegriffe Neurasthenie und Vorstellungs-krankheit keine Rolle mehr. Freud konzen-trierte sich hier schon ausschließlich auf dieBedingungen, die den sogenannten Gegen-willen entstehen lassen. Diese werden nichtmehr einer übermächtigen Kontrastvorstel-lung angelastet, die der Patient wederlogisch noch emotional enikräften kann, son-dern in der persönlichen Geschichte desSymptoms gesucht.

4. Psychokatharsis

Um abschließend auf die entgegen landläufi-gen Ansichten in der Medizin neben der Psy-choanalyse weiterexistierende Psychoka-tharsis eingehen zu können, ist es nötig,Freuds therapietechnische Loslösung vonHypnose und Suggestion schrittweise zuskizzieren. Auch in dieser Passage soll dassukzessive Entstehen einer neuen therapeuti-schen Qualität zum Ausdruck kommen, diekeinesfalls in Breuers Behandlungsstrategie

der Anna 0. vorgezeichnet lag, geschweigedenn, als fertiges Modell von Freud über-nommen werden konnte.

Wie die Neurasthenie für die Psychago-gik nahm für die kathartische Methode dieHysterie eine Leitbildfunktion ein. Breuerhatte den therapeutischen Zusammenhangzwischen Hysterie und Hypnose entdeckt,ohne diesen erklären zu können. Um dasMysterium Hysterie aufzulösen, mußte diegeläufige Vorstellungsdynamik durch einepsychologische Dimension ergänzt werden,welche die anscheinend undeterminiertenund irrationalen Abläufe der Hysterie einerlogischen Betrachtung zuführten. Diese Auf-gabe übernahmen unbewußte psychischeProzesse. Der kathartische Ansatz vonBreuer und Freud beruhte auf der Annahme,ein Wiedererleben der Geburt des Sym-ptoms während der hypnotischen Hyperm-nesie bewirke eine Abfuhr des verursachen-den Affektes und eine assoziative Eingliede-rung des erlittenen Traumas in die bewußteVorstellungswelt. Dadurch werde das vondem unbewältigten und verdrängten Affektenergetisch unterhaltene Symptom ausge-löscht. Der Versuch, die Veranlassung einesSymptoms zu erfahren, kam also per seeinem therapeutischen Manöver gleich.Diese Erkenntnis revolutionierte das bisdahin gültige Psychotherapieverständnis.Das Symptom wurde nun nicht mehr isoliertund ahistorisch behandelt bzw. als persön-lichkeitsfremd angesehen.

Mit der Psychokaiharsis gab Freud dieHeilsuggestion als solche auf und ersetztesie durch ein emotionales Erlebnis desPatienten, das dem authentischen traumati-schen Ereignis in seiner subjektiven Evi-denz entsprach. Noch war es dabei die Hyp-nose, die den Zugang zur Veranlassung desSymptoms gewährte. Für dessen Auflösungwar sie aber nicht mehr zuständig. Freudtrennte sich also zuerst von der Heilsugge-stion, ohne schon völlig auf die Hypnoseverzichten zu können. So schrieb er 1904 in„Die Freudsche psychoanalytische Me-thode" ein Beitrag zu L. Löwenfelds „Diepsychischen Zwangserscheinungen":

„Der Hauptcharakter der kathartischen Methode,der sie in Gegensatz zu allen anderen Verfahrender Psychotherapie setzt, liegt darin, daß bei ihrdie therapeutische Wirksamkeit nicht einem sug-

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gestiven Verbot des Arztes übertragen wird"(1975, S. 102).

In seinem eigenen weiterführenden Ansatz,den er kathartische Analyse nannte und1895 im Therapieteil der Studien überHysterie erläuterte, gab Freud schließlichauch die Hypnose als Mittel zur Erzeugungeines für die therapeutische Interventiongünstigen Bewußtseinszustandes auf. Er ent-schied sich statt dessen für eine Entspan-nungsform, die eine subjektive Bewertungdes emotionalen Geschehens durch denPatienten zuließ, d.h. dessen Selbstrefle-xionsfähigkeit erhöhte und nicht ausschal-tete. Im Mittelpunkt stand das gefühlsmä-ßige Wiedererkennen des ursprünglichenAffektes, der in Worte gefaßt werdenmußte, um die Nähe zur Person zurückzuge-winnen. Das wäre dem Patienten im hypnoti-sierten Zustand unmöglich gewesen. Dabeinutzte er das Verfahren 1895 ausdrücklichim Sinne einer symptomatischen Therapie:

"Die kathartische Methode wird darum nicht wert-los, weil sie eine symptomatische und keine kau-sale ist. Denn eine kausale Therapie ist eigentlichzumeist nur eine prophylaktische, sie sistiert dieweitere Einwirkung der Schädlichkeit, beseitigtdamit nicht notwendig, was die Schädlichkeitbisher an Produkten ergeben hat" (1975, S. 56).

Genau dieser Akzentsetzung fühlten sichandere Psychotherapeuten in Anlehnung anFreud noch Jahre hin verpflichtet. D. Bez-zola, L. Frank, W. Warda, J. Sadger u.a.übten diese Methode mit Erfolg aus undsuchten sie für das Repertoire des Nerven-arztes zu bewahren. Das geschah zwangsläu-fig in einer Auseinandersetzung mit Freudsneuer kausalgenetischer, konfliktauslösen-der und -bewertender Strategie, die sie nichtals hinreichenden Ersatz für die Katharsisakzeptierten. Sie hielten letztere vor allembei Angstaffekten für angebracht. LudwigFranks (1863-1935) Hauptwerk mit demTitel „Affektstörungen" erschien erst 1913.Es weist bei bescheidenen theoretischenErwägungen einen beachtlichen Fundus anKrankengeschichten und klinischen Detail-beobachtungen auf.

In der Konzentration auf den Angstaf-fekt lag die Stärke der Psychokatharsis, diesie während des Ersten Weltkrieges einegewisse Renaissance erleben ließ. Selbst

gestandene Psychoanalytiker griffen für dieTherapie der „Kriegsneurotiker" auf siezurück. Es erschien ihnen effektiv, den inder Soldatenrolle seiner individuellenRechte beraubten Patienten wieder stärkersymptomatisch zu behandeln und nicht diegesamte Persönlichkeit einzubeziehen. DieKatharsis galt als geeignetes Rudiment derPsychoanalyse, das eine affektzentrierteKurztherapie rechtfertigte. Einige Vertreterder „Kriegsneuropsychiatrie", welche dieerfolgreiche Katharsis gleich Psychoana-lyse setzten, konnten deshalb nicht umhin,generell ihre Haltung zur Psychoanalyse zuüberdenken. Eben das hatten sich die Psy-choanalytiker erhofft (Schröder, 1990). Esverwundert deshalb nicht, daß namhafte Psy-chotherapeuten wie J.H. Schultz (1884-1970), die sich vor allem durch ihre Kriegs-erfahrungen dauerhaft mit der psychothera-peutischen Aufgabe identifizierten, späterforderten, wer die Psychoanalyse beurteilenwolle, müsse mit der Psychokatharsis ver-traut sein (Schröder, König, 1984) .

Im Unterschied zu einigen seiner Schü-ler zollte Freud der hypnotischen Sugge-stion Zeit seines Lebens Hochachtung undbetonte ihre methodische und heuristischeBedeutung, auch wenn er sie nicht als eineselbständige Richtung der ärztlichen Psy-chotherapie in einem wissenschaftlichenGewand anzuerkennen bereit war.

Reicheneder (1983) vermutet hinter derGewißheit jener psychoanalytischen Selbst-darstellung, Freud habe zwischen 1887 und1893 systematisch mit der kathartischenMethode und nicht mit dem BernheimschenSuggestionsverfahren experimentiert, ein„verkürztes Verständnis" des „eigenen For-schungsprozesses" (S. 248). Diese Aussagekann nach den hier angestellten Betrachtun-gen insofern unterstrichen werden, als diePsychoanalyse den aus dem ärztlichenAlltag organisch entstandenen psychothera-peutischen Praxisformen vor und neben ihrgenerell die gebührende Aufmerksamkeitversagte. Es liegt sowohl im Interesse derPsychoanalyse- als auch der Psychologiehi-storiker/innen, dieses Versäumnis nachzuho-len und dabei überraschende Gemeinsamkei-ten zu entdecken.

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Bausteine einer alternativen Psychotherapie geschichtsschreibung

Anmerkungen1 Gustav Theodor Fechner (1801-1887)beschreibt in seinem Tagebuch ausführlich diehypnotischen Experimente des Dänen KarlHansen vor geladenen Ärzten und Naturwissen-schaftlern der Leipziger Universität AnfangApril 1879 (Tagebuch des Jahres 1879, Hand-schriftenabteilung der Universitätsbibliothek derKMU Leipzig. Bl. 29-56).2 Der Psychiater August Forel definierte in einerder ersten Monographien zum Thema den Hypno-tismus als die „Gesamtheit der mit der bewußtenund unbewußten Suggestion zusammenhängen-den Erscheinungen" (Forel, 1889, S. 15).3 Hirschmüller (1989) weist in der Interpretationeiner neuentdeckten Krankengeschichte ausFreuds früher Praxis darauf hin, daß Meynertspolemisches Gegenargument, die Hypnoseerzeuge eine sexualisierte Atmosphäre zwischenArzt und Patient(in), Freud in seiner psycholo-gisch-therapeutischen Auffassung der Hypnosekurzzeitig verunsichert haben könnte.4 Eine Ausnahme stellt die historisch-kritischeUntersuchung der Hypnose unter dem Aspektihres Einflusses auf die psychoanalytische Erklä-rung der Phänomene Rapport, Übertragung undIdentifizierung in der Masse dar, wie sie z.B.Chertok (1977) vornimmt.

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Zur Autorin:Dr.phil.habil. Christina Schröder, Dipl.Psych., wiss. Mitarbeiterin am Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizinund der Naturwissenschaften. Arbeitsgebiete: Geschichte der Psychotherapie und medizinischen Psychologie.Anschrift:Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften der Universität Leipzig,Augustusplatz 9, 7010 Leipzig.

2. Jahrgang Heft 3 149